Die Kleshas im Yoga: Bedeutung und Relevanz für das moderne Leben
- Lisa Tichy
- 4. Juli
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 6 Tagen
Im Yogasūtra von Patañjali (YS 2.3-2.9) finden wir die Kleśas oder Kleshas – die den Geist trübenden Leidenschaften, die als die Hauptursachen für unser Leid und unsere Unzufriedenheit betrachtet werden. Diese mentalen und emotionalen Hindernisse sind tief verwurzelt in unserer Wahrnehmung und beeinflussen unsere Gedanken, Handlungen und Beziehungen.
"Es gibt fünf störende Kräfte, die zu Leid führen: das Nicht-Verstehen der wahren Natur unseres Seins, die Ich-Zentriertheit, das Habenwollen, das Nicht-Habenwollen und das Hängen an der Kontinuität unseres körperlichen Daseins, verbunden mit der Angst vor dem Tod." (YS 2.3)
In der klassischen Yogatradition gibt es fünf Haupt-Kleshas, die uns daran hindern, unser wahres Selbst zu erkennen und inneren Frieden zu erfahren. Doch auch im Kontext des modernen Lebens, das von ständigen Ablenkungen, Leistungsdruck und Erwartungen geprägt ist, sind die Kleshas hochaktuell und bieten wertvolle Erkenntnisse zur Selbstreflexion und persönlichen Entwicklung.

1. Avidyā – Unwissenheit
Avidyā, das erste und tiefste der Kleshas, bedeutet Unwissenheit oder das Fehlen von Klarheit über unser wahres Selbst. Es ist die grundlegende Illusion, die uns glauben lässt, dass wir unser Körper, unsere Gedanken oder unsere Emotionen sind. In der Yogatradition wird diese Unwissenheit als die Wurzel aller anderen Kleshas betrachtet, da sie uns in den falschen Vorstellungen über unsere Identität gefangen hält.
In der heutigen Zeit ist Avidyā besonders relevant, da viele Menschen in einem Zustand des "Nicht-Wissens" leben – sie haben vergessen, wer sie wirklich sind, und identifizieren sich mit den äußeren Aspekten ihres Lebens: dem Job, den Beziehungen oder dem sozialen Status. Die ständige Beschäftigung mit äußeren Zielen und der Versuch, gesellschaftliche Normen zu erfüllen, können dazu führen, dass wir uns von unserem wahren Selbst entfremden. Yoga bietet hier eine Methode, um diese Unwissenheit zu durchbrechen und sich wieder mit unserer Essenz zu verbinden.
2. Asmita – Egoismus
Asmita ist das Gefühl des "Ich" oder das egoistische Selbst, das sich von anderen abgrenzt und glaubt, unabhängig oder getrennt zu sein. Es ist die falsche Identifikation mit dem persönlichen Ego, das uns in den Gedanken des Vergleichs und der Konkurrenz gefangen hält. Asmita führt zu einem ständigen Bedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung von außen.
In einer Welt, in der Social Media und äußere Bestätigung eine große Rolle spielen, ist Asmita allgegenwärtig. Der Drang, sich ständig mit anderen zu messen, das Bedürfnis nach Erfolg und Anerkennung oder das Streben nach Perfektion sind alles Manifestationen dieses Kleshas. Yoga hilft uns, dieses Ego zu erkennen und zu relativieren, indem wir lernen, uns nicht mit den äußeren Erfolgen oder Misserfolgen zu identifizieren, sondern auf unsere innere Weisheit und Stärke zu vertrauen.
3. Rāga – Begierde
Rāga steht für das Verlangen oder die Begierde, die uns ständig zu etwas hinzieht. Es sind die Dinge, die wir „haben wollen“, sei es Liebe, Besitz, Erfolg oder äußere Bedingungen. Diese Begierde wird oft von einem inneren Mangelgefühl gespeist – das Gefühl, dass wir etwas brauchen, um uns gut genug oder vollständig zu fühlen.
In der heutigen Konsumgesellschaft ist Rāga eine der am häufigsten vorkommenden Kleshas. Wir leben in einer Welt, die uns ständig Dinge und Erfahrungen verspricht, die unser Leben besser machen sollen: daseueste iPhone, das perfekte Haus, die Traumbeziehung. Doch je mehr wir uns von äußeren Wünschen leiten lassen, desto weiter entfernen wir uns von wahrer Erfüllung. Yoga lehrt uns, diese Begierden zu erkennen, ihre Quelle zu verstehen und uns zu befreien, indem wir lernen, im Moment zu leben und unsere Bedürfnisse von einem inneren Zustand des Wohlbefindens heraus zu erfüllen.
4. Dveṣa – Abneigung
Dveṣa ist das Gegenteil von Rāga – es ist die Abneigung oder der Widerwille gegenüber Dingen oder Erfahrungen. Es ist das Festhalten an negativen Gefühlen wie Wut, Hass oder Enttäuschung. Diese Klesha entsteht oft durch vergangene Traumata oder unangenehme Erlebnisse, die uns dazu bringen, bestimmte Menschen, Situationen oder sogar Teile von uns selbst zu meiden.
In einer Welt voller Konflikte und negativen Erfahrungen sind wir oft von Abneigung getrieben. Sei es in Beziehungen, bei der Arbeit oder im Umgang mit uns selbst – Dveṣa ist ein Klesha, das uns dazu verleitet, uns von dem zu distanzieren, was uns unangenehm erscheint. Doch wie bei der Begierde ist auch die Abneigung ein Hindernis, das uns von innerem Frieden abhält. Yoga zeigt uns, wie wir lernen können, auch unangenehme Erfahrungen mit Akzeptanz zu begegnen und uns von der Last der negativen Gefühle zu befreien.
5. Abhiniveśa – Angst vor dem Tod
Abhiniveśa ist die tief verwurzelte Angst vor dem Tod und der Ungewissheit, die das Leben mit vielen Menschen prägt. Diese Angst führt zu Anhaftung und der Furcht vor Veränderung. Abhiniveśa zeigt sich auch in der Besessenheit vom Überleben und dem Wunsch, Kontrolle über das Leben zu haben.
Die Angst vor dem Tod und die Unfähigkeit, sich der Vergänglichkeit des Lebens zu stellen, kann uns in vielen Bereichen unseres Lebens lähmen. In einer Gesellschaft, die oft das Bild von Unsterblichkeit und ewiger Jugend propagiert, kann Abhiniveśa als die Angst vor dem Unbekannten oder dem Ende von Dingen/Situationen/Zuständen manifestiert werden. Yoga hilft uns, diese Angst zu überwinden, indem wir lernen, im Einklang mit der Natur des Lebens und der Veränderung zu leben und den Moment zu schätzen.

Fazit: Die Kleshas als Schlüssel zu innerem Frieden und Transormation
Die Kleshas sind keine Hindernisse, die wir nur ein einziges Mal überwinden müssen, sondern vielmehr Spiegel, die uns die inneren Blockaden und begrenzenden Überzeugungen zeigen, die uns daran hindern, unser wahres Selbst zu erkennen. In der Yogatradition wird der Weg zur Freiheit von den Kleshas als ein Prozess der Selbstreflexion und des immer wieder Bewusstwerdens betrachtet. Durch die Praxis von Yoga, Meditation und Achtsamkeit können wir lernen, diese mentalen Verschleierungen zu erkennen, zu transformieren und schließlich loszulassen.
Im modernen Leben, das von ständigen äußeren Einflüssen geprägt ist, sind die Kleshas eine wertvolle Erinnerung, dass der wahre Frieden nicht in äußeren Umständen, sondern in unserem Inneren zu finden ist. Indem wir uns mit den Kleśas auseinandersetzen, können wir den Weg zu einem authentischen, erfüllten Leben finden.