Upekṣā (Gleichmut) – Die Kraft der inneren Balance
- Lisa Tichy
- vor 5 Tagen
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Im Yoga streben wir nicht nur nach einem starken Körper und einem ruhigen Geist, sondern auch nach einer inneren Haltung, die uns durch alle Höhen und Tiefen des Lebens trägt: Gleichmut (Sanskrit: Upekṣā).
Upekṣā beschreibt einen Zustand innerer Balance, in dem wir uns weder von Freude noch von Leid mitreißen lassen. Es geht darum, inmitten von Herausforderungen und Verlockungen gelassen zu bleiben und mit einem klaren Geist zu reagieren. Upeksha ist nicht Gleichgültigkeit, sondern eine bewusste Haltung, die uns erlaubt, das Leben in seiner Gesamtheit anzunehmen, ohne in Extreme zu verfallen. Während Gleichgültigkeit uns abstumpfen und distanziert sein lässt, ist Gleichmut eine zutiefst befreiende Qualität unseres Herzens, die uns davor bewahrt uns von Emotionen überwältigen zu lassen. Es ist ein aktives, waches Beobachten – mit Mitgefühl und innerer Stabilität.

Im Yoga Sutra, dem klassichen Leitfaden für den Yogaweg bestehend aus knapp 200 versen, spricht Patanjali bereits im ersten Kapitel (Vers 1.33) von Gleichmit:
„Maitri-karuna-muditopeksanam sukha-duhkha-punyapunya-visayanam bhavanatah citta-prasadanam.“
„Das meinende Selbst wird ruhig, wenn wir eine innere Haltung kultivieren, die sich dem Glück anderer freundlich zugewandt zeigt und von Mitgefühl für leidende Wesen geprägt ist, eine Haltung, die ehrliche Freude über Gutes zum Ausdruck bringt und von Gelassenheit gegenüber dem negativen zeugt.“
Diese vier Qualitäten – Maitri (Freundlichkeit), Karuna (Mitgefühl), Mudita (Mitfreude) und Upekṣā (Gleichmut) – dienen als Schlüssel zum inneren Frieden.
Besonders Gleichmut hilft uns, nicht in Ablehnung oder Reaktivität zu verfallen, wenn wir mit schwierigen Menschen oder Situationen konfrontiert sind. Wir lernen, mit innerer Klarheit und offenem Herzen zu beobachten, ohne sofort zu handeln oder zu bewerten.
Patanjali betont, dass Upekṣā oder Upeksha eine essenzielle Haltung ist, um den Geist zu beruhigen und ein tieferes Verständnis der eigenen Gefühle zu entwickeln. Durch Gleichmut können wir innere Stabilität erreichen und unser Bewusstsein erweitern.
Auch in der Bhagavad Gita wird Gleichmut als eine der höchsten geistigen Disziplinen gepriesen. Krishna lehrt Arjuna:
„Verbringe Arbeit in dieser Welt, Arjuna, als ein in sich gegründeter Mann - ohne sehnsüchtige Anhaftung und in Erfolg und Niederlage gleich. Denn Yoga ist vollkommene Ebenheit des Geistes.“ (Bhagavad Gita 2.48)
In einem weiteren Vers heißt es:
„Weder aufgewühlt durch Gram noch sich nach Vergnügen sehnnend leben sie frei von sinnlicher Begierde und Furcht und Zorn. (...) Nicht mehr durch sehnsüchtige Anhaftung gefesselt, werden sie weder durch Glück freudig erregt noch durch Unglück deprimiert. So sind die Seher.“ (Gita 2.56 f.)
Die Bhagavad Gita macht deutlich: Gleichmut bedeutet nicht Passivität, sondern ein Handeln aus innerer Klarheit, ohne sich an die Früchte der Handlung zu binden.
Es ist ein Loslassen von Erwartungen – eine tief verwurzelte Gelassenheit, die aus spirituellem Verständnis erwächst.
So wirkt Upekṣā
Upeksha hat tiefgreifende Auswirkungen auf unser Leben und unser Bewusstsein:
Innere Stabilität: Gleichmut hilft, emotionale Extreme zu vermeiden und einen ruhigen Geist zu bewahren.
Bessere Entscheidungen: Durch Upeksha können wir klarer denken und in schwierigen Situationen bewusster handeln.
Spirituelles Wachstum: Die Praxis von Gleichmut erweitert unser Bewusstsein und fördert eine tiefe Verbindung zum eigenen Selbst und zur Welt.
Wie können wir Gleichmut kultivieren?

1. Asanapraxis: Jede Haltung ist eine Gelegenheit, Gleichmut zu üben. Ob wir in der Balance schwanken oder wir noch drei weitere Atemzüge in einer anstrengenden Asana verweilen – die Frage ist: Können wir ruhig bleiben, statt im Widerstand zu sein oder die Haltung abbrechen zu wollen?
2. Pranayama: Der Atem ist das Tor zur Ausgeglichenheit. Gleichmäßiges, bewusstes Atmen beruhigt das Nervensystem und stärkt unsere Fähigkeit, innerlich stabil zu bleiben – auch in emotional aufgeladenen Situationen.
3. Meditation: In der stillen Beobachtung des Geistes lernen wir, Gedanken und Gefühle wie Wolken vorüberziehen zu lassen. Wir identifizieren uns nicht mehr mit jeder Emotion, sondern beobachten sie liebevoll – und lassen sie dann weiterziehen.
Von der Matte in den Alltag
Auf der Matte üben wir uns oft in einer inneren Haltung, die uns im Alltag unterstützen kann.
Akzeptanz üben: Akzeptiere, dass Freude und Leid, Komfort und Diskomfort, Anstrengung und Entspannung, Disziplin und Leichtigkeit Teil des Lebens sind. Indem du beide Erfahrungen gleichermaßen annimmst, entwickelst du innere Ruhe und eine Haltung von Gleichmut.
Nicht-Reagieren lernen: Versuche, in herausfordernden Situationen nicht sofort zu reagieren. Nimm dir einen Moment Zeit, um bewusst und gelassen zu handeln.
Ein Sankalpa/ eine Intention setzen: Intentionen wie „Ich bin ruhig und ausgeglichen“ oder „Ich nehme die Dinge an, wie sie sind“ können dich unterstützen Upeksha in deinem Alltag zu integrieren.
Selbstreflexion und Achtsamkeit: Wie reagiere ich auf Kritik? Auf Lob? Auf Ablehnung? Diese kleinen Momente sind Übungsfelder für Gleichmut. Wir üben, innezuhalten, durchzuatmen und bewusst zu antworten, statt impulsiv zu reagieren.
Reflexionsfragen um dich in Gleichmut zu üben:
Wann habe ich das letzte Mal Gleichmut erlebt – in einer schwierigen oder freudigen Situation?
Was bringt mich aus dem Gleichgewicht – und warum?
Welche körperlichen oder geistigen Reaktionen zeigen mir, dass ich gerade nicht im Gleichmut bin?
Wie kann ich im Alltag bewusst Raum schaffen für eine Reaktion aus Gleichmut statt aus Impuls?
In welchen Momenten auf der Matte fällt es mir leicht, ruhig zu bleiben – und wann wird es schwer?
Welche inneren Glaubenssätze hindern mich daran, gelassen zu sein?
Wie kann ich heute, ganz konkret, einen Moment des Gleichmuts kultivieren?
Fazit
Gleichmut ist kein fernes Ideal, sondern eine Haltung, die in jedem Moment gepflegt werden kann. Er wächst langsam – durch Übung, Bewusstheit und Selbstliebe. Er ist wie ein stiller, tiefer See in deinem Inneren: ruhig, klar und weit. Je öfter du dich mit ihm verbindest, desto mehr wird er zu deinem inneren Zuhause.