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Raga & Dvesha: Die Polarität der Wünsche und Abneigungen

Im Yoga geht es nicht nur um die körperliche Praxis von Asanas, sondern auch um die Vertiefung unseres Verständnisses über unsere inneren Zustände. Zwei grundlegende Begriffe, die immer wieder auftauchen, sind Raga und Dvesha, zwei der fünf Kleshas, die Ursachen des irdischen Leidens. Diese Begriffe beschreiben die zwei Polaritäten, die in unseren Gedanken, Gefühlen und Handlungen immer wieder auftauchen – unsere Wünsche und Abneigungen. Diese Konzepte finden sich im Yoga-Sutra von Patañjali, und sie sind entscheidend für die Entwicklung von Achtsamkeit und innerer Ruhe.

Zwei Hände ziehen an einem schwarzen Papierherz

Was ist Raga?


sukha-anuśayī rāgaḥ "Habenwollen tritt in Verbindung mit angenehmen Erfahrungen auf." YS 2.7

Raga wird oft als „Verlangen“ oder „Habenwollen“ übersetzt. Es beschreibt das Bestreben, Dinge zu besitzen oder zu erleben, die uns ein Gefühl von Freude, Komfort oder Zufriedenheit bringen. Dieser Begriff bezieht sich jedoch nicht nur auf materielle Wünsche, sondern auch auf emotionale Zustände oder Erfahrungen, die wir festhalten wollen. Ein Beispiel für Raga könnte die Sehnsucht nach einer bestimmten Erfahrung in der Yogapraxis sein, etwa das Verlangen, eine bestimmte Asana perfekt zu beherrschen oder eine besonders tiefe Meditationserfahrung zu erleben.


Im alltäglichen Leben zeigt sich Raga in unserem Streben nach äußeren Umständen, die wir als angenehm empfinden – wie die Sehnsucht nach Erfolg, Wohlstand oder Anerkennung. Doch das Problem von Raga liegt darin, dass es oft zu einem endlosen Streben führt, bei dem wir glauben, dass unser Glück von äußeren Umständen abhängt. Wenn diese nicht erfüllt werden, entsteht Unzufriedenheit.


Was ist Dvesha?


duḥkha-anuśayī dveṣa Nicht-Habenwollen tritt in Verbindung mit unangenehmen Erfahrungen auf. YS 2.8

Im Gegensatz zu Raga steht Dvesha, das als „Abneigung“, "Nicht-Habenwollen" oder „Ablehnung“ übersetzt wird. Dvesha beschreibt die Tendenz, Dinge zu vermeiden oder abzuwehren, die uns Unbehagen, Schmerz oder Ärger bereiten. Dies kann sich in der Yogapraxis als Widerstand gegen bestimmte Asanas oder Herausforderungen manifestieren, etwa das Vermeiden von schwierigen Posen oder unangenehmen Emotionen, die während der Meditation hochkommen.


Im Alltag zeigt sich Dvesha in unserer Abneigung gegen Situationen, Menschen oder Umstände, die uns unangenehm sind – sei es eine stressige Arbeitssituation oder eine schwierige zwischenmenschliche Interaktion. Diese Abneigungen schaffen oft Spannungen und blockieren unseren inneren Frieden, weil wir in einer ständigen Reaktion auf das Negative sind, anstatt es einfach anzunehmen und loszulassen.


Die Verbindung zu den Yoga-Sutras


Sutra 2.7 weist uns darauf hin, dass das Streben nach Vergnügen oder Befriedigung von Wünschen eine der Ursachen für das Leiden im Leben ist. Wir sind ständig damit beschäftigt, Vergnügen und Komfort zu suchen, aber diese Suche kann niemals zu dauerhaftem Glück führen, weil wir uns immer wieder nach mehr sehnen.


Sutra 2.8 ergänzt, dass auch die Ablehnung von Schmerz, sei es körperlich oder emotional, zu einem Zustand des Widerstands und der Anspannung führt. Dieser Widerstand verstärkt das Leiden, anstatt es aufzulösen.


Raga & Dvesha in der Yogapraxis


Die Praxis des Yoga ist ein hervorragendes Mittel, um Raga und Dvesha zu erkennen und zu transformieren. In der Asanapraxis begegnen uns immer wieder Herausforderungen, die unser Verlangen oder unsere Ablehnung hervorrufen können. Vielleicht streben wir danach, eine bestimmte Pose zu meistern, und werden frustriert, wenn unser Körper nicht so mitmacht, wie wir es uns wünschen – das ist Raga. Oder wir fühlen Widerstand gegen eine Pose, die uns körperlich oder emotional unangenehm ist – das ist Dvesha.


Eine wichtige Praxis im Yoga ist es, diesen Widerständen bewusst zu begegnen, ohne zu urteilen. In der Meditation oder beim Atmen beobachten wir, wie Raga und Dvesha in uns aufsteigen und nehmen sie einfach wahr, ohne uns in ihren Strudel zu begeben. So können wir lernen, die Kontrolle über unsere inneren Reaktionen zurückzugewinnen.


Raga & Dvesha im Alltag


Auch im alltäglichen Leben spielen Raga und Dvesha eine zentrale Rolle. Oftmals merken wir gar nicht, wie sehr wir uns in der Jagd nach Vergnügen oder der Vermeidung von Unangenehmem verlieren. Vielleicht neigen wir dazu, immer mehr zu konsumieren, in der Hoffnung, uns dadurch zufriedenzustellen – sei es durch materielle Dinge, Bestätigung oder Erlebnisse. Oder wir meiden bestimmte Menschen oder Situationen, die uns Unbehagen bereiten, was jedoch dazu führen kann, dass wir in ständiger Flucht vor der Realität leben.


Der Schlüssel zur Befreiung von diesem Kreislauf liegt in der Bewusstwerdung. Wenn wir uns bewusst machen, wie wir uns durch Wünsche und Abneigungen leiten lassen, können wir lernen, mehr im Moment zu leben und eine tiefere Akzeptanz für das zu entwickeln, was ist. Im Yoga wie im Leben geht es nicht darum, diese Polaritäten zu eliminieren, sondern sie zu erkennen und einen Raum zwischen den Impulsen und unseren Reaktionen zu schaffen.


Fazit


Raga und Dvesha sind grundlegende Konzepte im Yoga, die uns auf die inneren Anhaftungen und Abneigungen aufmerksam machen, die unser Leben und unsere Praxis prägen. Sie zu erkennen, ist der erste Schritt, um aus der ständigen Reaktion auf äußere und innere Umstände auszutreten. Durch achtsame Praxis und bewusste Wahrnehmung können wir lernen, in Einklang mit uns selbst zu leben, ohne von unseren Wünschen oder Abneigungen beherrscht zu werden. In der Praxis wie im Leben geht es darum, die Balance zwischen dem Streben nach Komfort und dem Akzeptieren von Diskomfort zu finden – und so inneren Frieden zu kultivieren.

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