Die Kraft der Befreiung: Von den letzten Schleiern zu sat-chit-ānanda
- Lisa Tichy

- 17. Juli
- 4 Min. Lesezeit
Yoga Sutras von Patanjali 4:29-31
In den letzten Versen des Yoga Sūtra offenbart Patañjali die vielleicht tiefgründigsten Wahrheiten des Yogaweges – und damit das Ziel, auf das alle Praxis, alle Disziplin und jede Transformation hinstrebt. Es ist ein Zustand der über das gewöhnlichen Denken, über jegliche Verstrickung, jegliches "Ich" und "Mein" hinausgeht. Es ist der Zustand der grenzenlosen Klarheit, der inneren Freiheit, der wahren Erkenntnis – das, was im Yoga als sat-chit-ānanda beschrieben wird: Sein – Bewusstsein – Glückseligkeit.
Auf dem Weg zur inneren Befreiung

Schauen wir uns dafür drei aufeinanderfolgenden Sūtras aus Kapitel 4 und deren Bedeutung an:
Prasaṅkhyāne’pyakusīdasya sarvathā vivekakhyāterdharmameghaḥ samādhiḥ „Wenn der Geist durch vollständigem unterscheidendem Gewahrsein (viveka-khyāti) und völliger Nicht-Anhaftung (akusīdatva) alles Vorrübergehende erkannt und durchschaut hat, entsteht Dharma-Megha-Samādhi – die höchste Form der Kontemplation.“ YS 4:29
Hier beginnt der Übergang in einen Zustand jenseits gewöhnlicher Meditation. Der Yogi erkennt nicht nur, was real ist – er haftet auch nicht mehr an dieser Erkenntnis. Selbst spirituelle Errungenschaften werden losgelassen. Und genau in diesem Loslassen entsteht der Regen der Gnade, Dharma-Megha-Samādhi – eine Form der Kontemplation, in der die höchste Vereinigung erfahren wird. Es ist die Kontemplation ohne Streben – reines Dasein im Dharma.
Hier beschreibt Patañjali den Zustand, in dem der Yogi nichts mehr will, nichts mehr anstrebt. Alle weltlichen Ziele, selbst innere, "spirituelle" Wünsche, sind aufgelöst und wurden losgleassen. Der Geist kehrt zurück in seine reine Form, jenseits von Handlung, Reaktion und Begierde. Es ist ein tiefes inneres "sich hingeben" .
Dharmamegha Samādhi – der Regen der Gnade
In Yoga Sūtra 4:29 ist von einem besonderen Zustand die Rede: dem dharmamegha samādhi, dem "Regen der Gnade". Es ist die höchste Form von Samādhi, in der der Yogi nicht mehr für sich selbst strebt, sondern vollständig mit dem Dharma – dem göttlichen, ordnenden Prinzip – verbunden ist. In diesem Zustand lebt der Yogi in sat-chit-ānanda: Sein-Bewusstsein-Glückseligkeit.
In diesem Zustand tritt das individuelle Ich vollkommen zurück. Es gibt kein "Ich handle" mehr, kein Leiden und kein kreieren von neuem Karma mehr.
tataḥ kleśa-karma-nivṛttiḥ Dann enden alle Leiden (kleśas) und karmischen Handlungen. YS 4:30
Mit dem Loslassen der letzten Verstrickungen und Anhaftungen enden also alle Ursachen für zukünftiges Leiden. Der Yogi ist nicht mehr gebunden an frühere Gewohnheiten, an automatisches Handeln oder an Erwartungen. Es gibt kein Festhalten mehr. Was bleibt, ist reines Gewahrsein.
Dennoch entflieht der Yogi nicht aus der Welt. Er bleibt in ihr, doch nicht mehr von ihr. Er handelt im Guten, nicht aus dem Ego, sondern aus reiner Erkenntnis. Er wird zu einer lebendigen Verkörperung der befreienden Kraft – zu einem Jīvanmukta: einer befreiten Seele, die lebt und dient, nicht weil sie muss, sondern weil sie ist.

tadā sarvāvaraṇamalāpetasya jñānasyānantyāj jñeyam alpam "Dann, wenn alle Schleier entfernt sind, wird die Erkenntnis grenzenlos. So bleibt nur noch wenig zu wissen." YS 4:31
Die tiefere Bedeutung dieses Sutras im Alltag
Dieses Sūtra ist nicht nur philosophisch – es ist auch tief menschlich. Denn auch wenn wir nicht dauerhaft im Zustand der vollkommenen Befreiung leben, können wir die Dynamik dieses Sutras jeden Tag erfahren:
„Alle Schleier entfernt“ – was heißt das?
Im Alltag sind es oft emotionale, mentale oder energetische Schleier, die uns daran hindern, klar zu sehen:
unsere Bewertungen („Ich bin nicht gut genug.“)
unsere alten Denkmuster („Ich muss es allen recht machen.“)
unsere unbewussten Schutzmechanismen („Wenn ich mich öffne, werde ich verletzt.“)
Wenn wir still werden – etwa in der Meditation, im bewussten Atem oder in einer Asana – können diese Schleier für einen Moment transparenter werden. Und plötzlich spüren wir:
Ich bin nicht meine Gedanken. Ich bin nicht mein Schmerz. Ich bin nicht meine Emotionen. Ich bin mehr. Ich bin die wahrnehmende Kraft dahinter.
„Das Wissen wird unendlich“
Dieses unendliche Wissen ist kein intellektuelles Verstehen. Es ist eine Intelligenz, die mit jeder einzelnen Körperzelle verstanden hat. Es ist das tiefe innere Wissen um das Wesentliche:
um das, was wirklich zählt
um die Wahrheit hinter dem Lärm
um das stille Licht im Herzen
Es ist die Erkenntnis: Ich muss nicht alles wissen. Ich darf einfach SEIN.
Und in diesem Sein entsteht plötzlich Klarheit:
über Entscheidungen
über Beziehungen
über das eigene Handeln
Nicht weil man „nachgedacht“ hat, sondern weil man bei sich angekommen ist und aus der reinsten und rohsten eigenen Wahrheit schöpft.
„So bleibt nur noch wenig zu wissen“
Das bedeutet:Die äußeren Dinge – Erfolge, Status, Konflikte, äußere Ziele – verlieren an Wichtigkeit.Nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus innerer Weite.
Wir sind nicht mehr geblendet von der Oberfläche. Wir sehen tiefer. Wir handeln klarer. Wir urteilen weniger. Und das verändert alles:
wie wir mit Stress umgehen
wie wir Beziehungen gestalten
wie wir innerlich reagieren, wenn das Leben anders spielt als geplant

Die Bedeutung des Sutras in der Yogapraxis
Diese Zustände erreichen wir nicht in einer 90-Minuten-Klasse. Trotzdem öffnet uns jede Yogastunde den Raum ein Gefühl dafür zu bekommen, einen Samen zu säen und uns auf den Weg zu machen.
In jeder Asana, in jeder bewussten Bewegung, in jedem Atemzug üben wir, unsere Schleier zu lichten:
Schleier aus Angst
Schleier aus Ego
Schleier aus alten Mustern und Gewohnheiten, die nicht mehr dienlich sind
Jede Haltung ist eine Einladung:
dir zuzuhören
dich zu öffnen
dich hinzugeben und einzulassen
mutig zu sein
dich zu zeigen
dich zu sehen
Fazit
Diese Sutras erinnern uns daran, worum es im Kern wirklich geht: Nicht um die perfekte Asana, nicht um äußere Ziele, nicht um Statussymbole - das Gegenteil ist der Fall. Es geht darum all das loszulassen und damit okay zu sein. Es geht um das Entfernen all dessen, was uns von unserer wahren Natur trennt.
Wir müssen nicht alles sofort verstehen. Wir müssen auch nichts erreichen. Aber wir dürfen uns mit jeder Yogapraxis, mit jedem bewussten Atemzug, mit jeder bewusst gestellten Frage zu Reflexion ein Stück weiter öffnen. Für das Wesentliche im Inneren. Für das Licht hinter unseren Schleiern. Für den Mut, weich zu werden und dabei kraftvoll zu sein.
Yoga ist ein Erinnern an das, was wir sind – sat-chit-ānanda.



