top of page

Yoga Sutra 4.27 – Samskara: Wenn alte Muster wieder anklopfen

Tadā punar api pratiprasava-hēyaḥ saṁskāraḥ Phasenweise werden dennoch ablenkende Gedanken auftreten. Dies geschieht wegen der tief liegenden Gewohnheiten. YS 4:27

Der lange Atem innerer Arbeit


Kennst du das Gefühl, ein Thema endlich gemeistert zu haben – nur um Monate oder Jahre später festzustellen: Da ist es wieder?


Vielleicht hast du geglaubt, alte Ängste oder ein bestimmtes Verhaltensmuster hinter dir gelassen zu haben – doch plötzlich reagierst du im Gespräch mit deinem Chef oder im Teammeeting auf eine Art, die dich überrascht. Die alte Unsicherheit, das Bedürfnis nach Anerkennung, der Reflex sich zu rechtfertigen – es ist alles noch da, leiser vielleicht, aber spürbar.


Samskaras

Das Yoga Sutra 4.27 beschreibt genau diesen Moment. Patanjali weist uns darauf hin, dass selbst nach tiefer meditativer Einsicht und innerer Transformation die alten Saṁskāras – gewohnte Denk- und Verhaltensmuster – wieder auftauchen können.


Samskaras sind tiefliegende Eindrücke, Erinnerungen oder Prägungen, die sich durch vergangene Erfahrungen im Geist und Körper eingeprägt haben. Man kann sie sich vorstellen wie Spuren im weichen Ton oder wie Trampelpfade im Wald, die durch Wiederholung entstanden sind. Manche davon sind hilfreich – andere engen uns ein oder wiederholen sich unbewusst, obwohl wir sie längst nicht mehr brauchen. Selbst wenn wir bereits neue Wege gehen, können wir in stressigen Momenten oder unter Druck in diese alten Spuren zurückrutschen.


Yoga Haltung Janu Jirsasana - 3 Übende die unterschiedlich tief kommen mit ihrem Oberkörper in der Vorbeuge

Yoga ist kein Ziel, sondern ein Weg

Die Yogapraxis – auf der Matte wie im Leben – ist kein einmaliger Befreiungsschlag. Sie ist ein ständiger Dialog mit uns selbst. Die Yogapraxis zeigt dir: Was ist heute lebendig in mir? Wo reagiere ich aus Gewohnheit? Wo wiederholt sich etwas?


Vielleicht beobachtest du dich im herabschauenden Hund dabei, wie du beginnst, dich zu vergleichen – obwohl du dachtest, du wärst darüber hinweg. Oder du nimmst ein Gefühl der Ablehnung gegenüber bestimmter Asanas wahr, weil du unbewusst vielleicht ein Gefühl von Versagen damit verbindest.


Manchmal überfordern wir uns aber auch in einer Sequenz, weil ein alter Leistungsdruck in uns wirkt und wir auf jeden Fall die schwierigste Asana Variante mitgehen wollen, die wir auch auf keinen Fall früher auflösen, selbst wenn unser Körper schon blockt und nach einer Pause in Balasana schreit. Blöcke zur Unterstützung? Was waren Blöcke nochmal?! ;-) Auch hier schaltet sich gerne direkt der innere Kritiker ein und sagt "Schau mal neben dich. Sie schafft es auch ohne."


All diese Gedanken und Gefühle können von Samskaras beeinflusst sein.

Genau hier beginnt deine Yogapraxis: Das Üben auf deiner Matte bietet dir einen sicheren Raum, diese Muster zu beobachten, zu benennen und sanft zu transformieren. Jeder bewusste Atemzug, jede achtsame Bewegung ist eine Einladung, einen neuen Pfad zu betreten.



Der Alltag als Spiegel der Praxis

Was auf der Matte gerade noch wunderbar klappte, wir im Alltag oft direkt auf die Probe gestellt. Ein Blick in unseren Berufsalltag oder in unsere Beziehungen bietet uns hier gerne unzählige Beispiele:

  • Du hast dir vorgenommen nur noch klar zu kommunizieren, und doch weichst du in der nächsten Konfrontation zurück.

  • Du glaubst Konfrontationen inzwischen mit völliger Gelassenheit begegnen zu können und Trigger gekonnt wegzuatmen, doch dann war die Zündschnur doch zu kurz.

  • Du willst Grenzen setzen, doch dein Harmoniebedürfnis funkt dazwischen.

  • Du strebst danach, aus innerem Vertrauen zu handeln, und doch meldet sich der Kritiker in dir.

  • Du überarbeitest dich, weil in dir die alte Überzeugung lebt, dass du nur durch Leistung liebenswert bist.

  • Du sagst „Ja“, obwohl du „Nein“ meinst, weil du gelernt hast, andere nicht zu enttäuschen.


Kennen wir alle. Die gute Nachricht: Diese Situationen sind keine Rückschritte. Sie sind Einladungen, tiefer zu schauen. Nicht mit Selbstverurteilung, sondern mit Bewusstheit. Diese Reaktionen laufen oft automatisch ab – so schnell, dass du sie meist erst im Nachhinein bemerkst. Und doch sind sie der Schlüssel zur Freiheit, wenn du beginnst, sie bewusst zu machen.

Der Alltag ist kein Hindernis auf dem inneren Weg – er ist der Weg. Jede Begegnung, jedes Gespräch, jede Herausforderung kann dich auf ein Samskara hinweisen, das bereit ist, geheilt zu werden.


Was hilft?

  • Wahrnehmen statt verdrängen: Wenn ein altes Muster sich zeigt – sei neugierig. Woher kennst du das Gefühl? Wann war es früher präsent? Was genau hat es diesmal ausgelöst? Wo im Alltag wiederholen sich bestimmte Situationen mit Kolleg:innen, in deiner Partnerschaft oder in deiner Familie – immer wieder auf ähnliche Weise?

  • Zurück zur Quelle: Wann hast du diese Reaktion das erste mal gezeigt? Aus welcher Quelle kommt die Gewohnheit? Welches Gefühl verknüpfst du damit?

  • Sanftes Üben: Yoga ist ein Übungsweg (abhyāsa). Wir fallen – und stehen wieder auf. Immer wieder.

  • Alltag als Übungsfeld: Die echte Yogapraxis beginnt nicht bei der perfekten Asana, sondern bei der Art, wie du deine innere Haltung in deinen Alltag übersetzt. Also, wie du deinem Chef begegnest, wenn du innerlich aufgewühlt bist.


Fazit


Alte Gewohnheiten sind nicht „falsch“ – sie sind Teil unseres Weges. Yoga schenkt uns das Bewusstsein, alte Muster sichtbar werden zu lassen – nicht, um sie zu bekämpfen, sondern um sie zu verstehen, zu würdigen und zu wandeln.

Wenn alte Themen auftauchen, bedeutet das nicht, dass deine Entwicklung umsonst war. Es bedeutet nur, dass du jetzt bereit bist, sie auf einer tieferen Ebene zu verstehen. Tiefliegende Gewohnheiten brauchen Wiederholung – nicht nur, um sie zu erkennen, sondern auch, um sie nachhaltig zu verändern.

Yoga Sutra 4.27 erinnert dich: Heilung ist wie eine Spirale. Und manchmal kreist du an einem Punkt vorbei, nicht weil du zurückfällst, sondern weil du eine neue Tiefe betrittst.





bottom of page