Mudita – Die Kunst der Mitfreude
- Lisa Tichy
- 1. Aug.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 2. Aug.
Wie uns Yogaphilosophie lehrt, in der Freude anderer Frieden zu finden
„Maitrī karuṇā muditā upekṣāṇām sukha-duḥkha-puṇya-apuṇya-viṣayāṇām bhāvanātaś cittaprasādanam“ "Das Bewusstsein wird ruhig, wenn wir eine innere Haltung kultivieren, die sich dem Glück anderer freundlich zugewandt zeigt und von Mitgefühl für leidende Wesen geprägt ist, eine Haltung die ehrliche Freude über Gutes zum Ausdruck bringt und von Gelassenheit gegenüber dem Negativen zeugt." YS 1.33

Die vier Herzensqualitäten des Yoga
Patañjali beschreibt im ersten Kapitel der Yoga Sūtras vier Qualitäten, die das Herz und den Geist beruhigen und unser inneres Gleichgewicht stärken: Freundlichkeit (Maitrī), Mitgefühl (Karuṇā), Mitfreude (Muditā) Gleichmut (Upekṣā).
Während Maitrī und Karuṇā oft leicht nachzuvollziehen sind, bleibt Muditā – die Mitfreude – vielen ein Rätsel. Denn: Wie oft fällt es uns leicht, ehrlich die Freude eines anderen Menschen zu teilen, ohne Neid, ohne Vergleich, ohne das Gefühl von Mangel?
Vielleicht denkst du "Ich freue mich immer mit anderen." Aber stimmt das wirklich? Freust du dich wirklich immer über den Erfolg der anderen?
Freust du dich, wenn es um den Erfolg in einer Sache geht, die du bereits erreicht hast oder die für dich nicht von Relevanz ist?
Freust du dich, wenn jemand ein Ziel erreicht, das du selbst gerne erreichen würdest es jedoch selbst noch nicht erreicht hast?
Freust du dich, wenn andere Aufmerksamkeit oder Anerkennung bekommen, die du selbst gerne erfahren würdest?
Was ist Mudita?
Muditā ist die Fähigkeit, sich aufrichtig über das Glück, die Erfolge und das Strahlen anderer zu
freuen – ganz gleich, ob wir selbst gerade auf einer Welle des Erfolgs reiten oder durch schwierige Zeiten gehen.
Es ist das Gegenteil von Neid, Missgunst, Eifersucht oder Konkurrenzdenken. Es ist ein Gefühl, das sagt: "Wie schön, dass du glücklich bist – dein Glück bereichert auch mein Herz."
Mudita auf der Yogamatte
Wie oft blicken wir in einem Yogakurs nach links oder rechts und vergleichen uns? Vielleicht siehst du, wie jemand scheinbar mühelos in die Krähe oder den Handstand geht, perfekt im Rad steht oder einfach super flexibel in Hanumanasana gleitet, während du dich gerade mit deinem Atem sortierst oder dich noch mit einer simplen Vorwärtsbeuge anfreundest.
Hier beginnt die Praxis von Mudita:
In solchen Momenten dürfen wir bewusst innehalten und uns erinnern:
Yoga ist kein Wettbewerb. Es ist eine individuelle Praxis – und die Freude der anderen gehört auch zur Energie des Raums.
Stell dir vor, du beginnst, das Strahlen einer Mitpraktizierenden in einer Herzöffner-Position nicht als Zeichen dafür zu deuten, dass du zu wenig bist, sondern als Einladung:
"Diese Energie ist möglich. Ich lass mich inspirieren dieses Strahlen aus offenem Herzen zu übernehmen, unabhängig von der Form meines Körpers." „Ich freue mich über meine eigene Entwicklung – und feiere die Fortschritte anderer.“
Vielleicht bringt dich diese Perspektive sogar tiefer in deine eigene Praxis. Denn Mitfreude ist Verbindung statt Abgrenzung.
Konkrete Übungen für die Matte:
Wenn du merkst, dass dein Blick abschweift und du dich vergleichst, lächle innerlich und atme bewusst tief ein: „Ich feiere dein Licht – und vertraue meinem Tempo.“
Beende deine Praxis mit einer kleinen Geste des Mitfreuens: sende innerlich ein Danke und ein Lächeln an alle, die heute mit dir praktiziert haben.
Mudita auf der Matte bedeutet also, eine neue Form von Gemeinschaft zu erleben – eine, die nicht auf Leistung basiert, sondern auf gegenseitiger Wertschätzung.
Mudita im Alltag
Im Alltag begegnet uns Muditā in vielfältiger Form – oft dort, wo unser Ego besonders laut ist:
Deine Kollegin erhält die Beförderung, die du dir auch gewünscht hast.
Jemand postet seinen Traumurlaub – und du sitzt mit Stress im Büro.
Dein Nachbar erzählt, dass sein Business boomt, während du dich gerade mit Existenzsorgen trägst.
Deine Freundin wird zum zweiten Mal Mutter, während du noch auf dein erstes Kind wartest.
Deine Freunde ziehen in ihr Traumhaus, während du noch in der WG wohnst.
Dein Kumpel fährt das Auto, das du dir vielleicht frühestens in drei Jahren leisten kannst.
Eine der großen Künste des Lebens ist es, dich genau in diesem Momenten ehrlich mitfreuen zu können. ...und wenn du das schaffst, dann im nächsten Schritt auch die Stimmen von außen zu ignorieren, die dir sagen "Stört es dich nicht, dass..." , "Ach das tut mir leid für dich..." , „Ich könnte das ja nicht…“ und ähnliches. Die Stimmen, die dir weis machen wollen, dass du eigentlich doch gar nicht so okay sein solltest mit dem Erfolg der anderen, sind Stimmen, die du mit deiner Praxis von Mudita inspirieren darfst.
Dabei ist wichtig zu verstehen, dass Muditā nicht bedeutet, dass du deine eigenen Herausforderungen ignorierst. Es bedeutet vielmehr, dass du erkennst: Das Glück anderer ist kein Angriff auf dich. Das Glück der anderen schmälert dein Eigenes nicht und insbesondere wird ebensowenig dein Glück durch den Misserfolg deines Umfeldes gesteigert.
Wenn du beginnst, die Freude anderer als Teil deines erweiterten Erfahrungshorizonts zu sehen, entsteht Raum. Raum für Wachstum, Verbindung, Frieden – und auch für deinen eigenen Weg.
Konkrete Übungen im Alltag:
Komplimente geben: Wenn dir etwas Positives auffällt – sag es. Verteile Freude aktiv.
„Joy-Journaling“: Notiere jeden Abend einen Moment, in dem du Mitfreude empfunden hast – oder bewusst hättest empfinden wollen.
Bewusstes Umlenken: Wenn du merkst, dass Neid aufkommt – halte inne, atme tief durch und frage dich:„Was kann ich aus diesem Moment lernen?“ "Warum hat es diese Person verdient, dass ich mich mit ihr freue?"
Unser Geist liebt es zu vergleichen – besonders in den sozialen Medien. Doch genau hier liegt auch die Praxis. Frage dich bewusst:
Was macht das Glück dieser Person in mir lebendig?
Wie könnte ich mich mitfreuen, ohne mein eigenes Glück davon abhängig zu machen oder mich zu vergleichen?
Wie kann ich mich mitfreuen ohne meine Realität dabei kleinzureden?
Was trägt aus meinem Leben zu meinem Glück bei?
Wofür bin ich dankbar?
Was sind meine Stärken und Erfolge?

Warum Mudita so kraftvoll ist
Wenn du dich ehrlich über das Glück anderer freust, passiert etwas Magisches: Du vergrößerst das Feld der Freude und schenkst auch dir selbst mehr inneren Frieden.
Denn Freude ist nicht begrenzt. Wenn du die Freude anderer feierst, wird dein Herz weit. Dein Geist wird ruhig. Und das ist genau das, was Patañjali mit dem Begriff "citta-prasādanam" meint: die Klarheit und Heiterkeit des Geistes.
Reflexionsfragen zur Praxis von Mudita
Wann habe ich mich das letzte Mal ehrlich für jemanden gefreut – ohne Neid oder Vergleich?
In welchen Momenten fällt es mir schwer, die Freude anderer zu feiern?
Wie fühlt sich mein Herz an, wenn ich Mudita kultiviere?
Was könnte mir helfen, mehr Vertrauen in meinen eigenen Weg zu entwickeln, um Muditā aus vollem Herzen leben zu können?
Gibt es eine Person in meinem Umfeld, deren Erfolg mich bisher getriggert hat – und könnte ich diesen Trigger in eine Mitfreude verwandeln?
Fazit: Muditā ist ein Weg in die Fülle
Die Praxis von Muditā bringt dich in Verbindung mit dem Gefühl von Fülle. Wenn du dich über das Glück anderer freuen kannst, ohne dich selbst abzuwerten, wird dein Herz weich – und dein Geist klar.
Du erkennst: Das Licht der anderen löscht nicht dein Eigenes. Es lädt dich vielmehr dazu ein dein Leuchten noch heller werden zu lassen.