Yoga Sutra 3.34 – Dein Herz, deine innere Lehrerin
- Lisa Tichy
- 14. Aug.
- 4 Min. Lesezeit
Wie wir durch bewusstes Zuhören in uns selbst Zugang zu tiefer Erkenntnis finden
„hṛdaye cittasaṁvit“ Durch Samyama auf das Herz entsteht Erkenntnis über das Bewusstsein selbst. YS 3.34
Was bedeutet dieses Sutra?
Mitten im dritten Kapitel der Yoga Sūtras, dem sogenannten Vibhūti Pāda, spricht Patañjali von etwas sehr Kostbarem, von einer Art innerem Erwachen.
Er sagt: Wenn du deine Aufmerksamkeit in dein Herz richtest und dort mit Fokus und Hingabe verweilst, dann kommst du in Verbindung mit deinem Bewusstsein, einem klaren Geist und erlangst Erkenntnisse über dein Denken und Fühlen. Er spricht dabei von einer tiefen inneren Erfahrung, einer Art Erwachen. Was bedeutet das genau?

Das Herz als Ort innerer Erkenntnis
In der Yogaphilosophie ist das Herz (hṛdaya) nicht nur das physische Organ, sondern wird auch als Energiezentrum verstanden, wo Bewusstsein über das Universum unserer Gefühle, wie z.B. Mitgefühl, Mut, Liebe, Dankbarkeit, Freude aber auch Angst, Stress oder Wut, zu Hause ist. Es ist der Raum, in dem Stille und Wissen schon immer da sind – jenseits des Denkens, jenseits der Persönlichkeit, jenseits der äußeren Umstände. Das ist nicht nur eine Überzeugung in der Yogaphilosophie, auch zahlreiche Studien belegen, die Verbindung zwischen Herz und Geist.
Patañjali spricht hier von Samyama – der gebündelten Kraft aus Konzentration (dhāraṇā), Meditation (dhyāna) und Versenkung (samādhi). Wenn du diese drei auf dein Herz ausrichtest, öffnet sich etwas. Du beginnst zu wissen, zu verstehen, was du wirklich bist, wer du bist, was zu dir gehört und was nicht. Nicht durch Analyse. Nicht durch Vergleiche. Sondern durch ein stilles, tiefes Erkennen deines eigenen, ganz individuellen Rhythmus.
Wo begegnet uns das Sutra im Alltag?
Vielleicht kennst du diese Momente:
Du triffst eine Entscheidung, die im Kopf logisch und sinnvoll scheint, im Herzen fühlst es sich aber gar nicht richtig an.
Oder umgekehrt: Du triffst eine Entscheidung, die rational total unvernünftig ist, bei der du aber einfach weißt, dass es die Richtige ist.
Oder du erlebst etwas Schönes, und für einen Moment wird alles still in dir. Kein Denken, nur Staunen.
Oder du hörst jemandem zu und weißt plötzlich, was wahr ist, auch wenn keine Worte fallen.
All das sind kleine Hinweise auf das, was Yoga Sūtra 3.34 beschreibt: Wissen, das aus der Tiefe kommt. Nicht gelernt, sondern erinnert. Nicht erdacht, sondern erspürt.
Dieses Sutra erinnert uns daran, dass es einen Ort in uns gibt, an dem alles schon da ist. Wo keine äußere Bestätigung nötig ist. Wo wir nicht erst lernen müssen, was richtig und falsch ist.
Oft leben wir so im Autopliloten, dass wir dieses Wissen aber nicht hören, nicht ernst nehmen, uns nicht die Zeit geben es bewusst anzuerkennen. Statdessen rennen wir weiter in unserem Tunnel den Zielen anderer hinterher. Und während wir dem Rhythmus anderer folgen, verlieren wir unseren eigenen Takt. Der Geist wird unruhig, das Herz stumpf und irgendwann stellen wir uns Fragen wie:
An welchem Punkt bin ich eigentlich falsch abgebogen?
Wann habe ich mich verloren und wie konnte es soweit kommen?
Warum fühlt sich mein Leben nicht mehr nach mir an?
Wozu tu ich das eigentlich alles?
Es zeigt: Uns selbst immer wieder für einen Augenblick lang bewusst zuzuhören, innezuhalten, durchzuatmen, in uns hinein zu fühlen ist kein Luxus, es ist essenziell.
Auf der Yogamatte das Herz hören lernen
Auf unserer Matte können wir genau dieses Zuhören üben. Durch bewusste Atmung, durch das Getragen sein auf unserer Matte und im Yogaraum. In dem Moment, in dem du in deinen Haltungen den Übergang findest von "Leisten wollen" hin zu einem "Hineinsinken", einem "Einswerden" mit der Asana. Wenn du den Atem nicht mehr kontrollierst, sondern ihm lauschst. Wenn du aufhörst zu denken „Wie sieht es aus?“, und dir stattdessen mit der bewussten Frage begegnest „Wie fühlt sich die Asana wirklich für mich an?“
Vielleicht ist es auch ein Moment in der Haltung des Kindes (Balasana), ein bewusster Atemzug in der Kobra oder das Nachspüren im Liegen, wenn diese subtile Gefühl, die leise Stimme aufkommt, die dich wissen lässt "Ja, das bin ich. In meiner rohsten, pursten Version." Nicht als Rolle, nicht als Funktion, sondern als Wesen.

Genau hier beginnt deine ganz persönliche Yogapraxis. Hier beginnt der Moment, indem du erkennst was du wirklich brauchst. Weniger Leistung oder mehr Disziplin? Mehr Halt oder mehr Leichtigkeit? Kraft oder sanfte Übergänge? Ein mutiges Verlassen der Komfortzone oder ein liebevoller Griff zum Block?
Hier beginnst du deinen eigenen Rhythmus zu fühlen und ihm zu vertrauen.
Die Essenz des Yoga Sutra 3.34
Wir alle sind auf der Suche - nach Antworten, nach Bestätigung, nach Sicherheit, nach den richtigen Wegen, dem Frieden, ... Meistens suchen wir im Außen, obwohl wo alle Antworten doch bereits in uns gegeben sind. Sie sind da und warten nur darauf gehört zu werden- den Raum zu bekommen sich zeigen zu dürfen.
Das Yoga Sutra 3.34 erinnert dich genau daran: Du trägst das Wissen in dir.
Nicht als starre Wahrheit, sondern als lebendige Weisheit, die sich in der Stille zeigt. Im Hinhören. Im Hineinfühlen. Im Sein.
Patanjali ruft uns immer wieder in Erinnerung, worum es im Yoga geht, wo Yoga beginnt: Nicht im Tun oder Leisten. Sondern im Nichts-Tun. Im Sein. Nicht im Müssen, sondern im Lauschen. Nicht im Vergleich, sondern im Vertrauen.
Dann erlangen wir geistige Klarheit. Wenn wir unserem Herzen lauschen. Wenn wir aufhören alles kontrollieren zu wollen. Wenn wir beginnen zu verstehen, was wirklich zu uns gehört und wovon wir uns lösen dürfen. Dann bleibt: Dein Tempo. Deine Wahrheit. Dein innerer Rhythmus.
Reflexionsfragen zum Üben
Wann habe ich zuletzt meinem Herzen wirklich zugehört?
In welchen Momenten spüre ich meine innere Wahrheit am deutlichsten?
Was könnte sich verändern, wenn ich dem Wissen in meinem Herzen mehr Raum gebe?
Welche Praxis hilft mir, wieder in Verbindung mit meinem Herzbewusstsein zu kommen?
Wo und wann kann ich mir jeden Tag für einen Moment den Raum schenken mir selbst zuzuhören?
Fazit: Dein Herz kennt den Weg
Yoga Sūtra 3.34 erinnert uns daran, dass tiefes Wissen nicht laut ist. Es flüstert. Es wartet. Es offenbart sich nicht dem, der alles wissen will, sondern dem, der bereit ist zu lauschen.
Wenn du dich deinem Herzen zuwendest - in der Stille, in der Bewegung auf der Matte, im Alltag Dann öffnet sich eine Tür. Die Tür nach innen. Genau dort findest du etwas, das dir niemand geben und niemand nehmen kann: Vertrauen. Klarheit. Bewusstsein.